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3,0 von 5 SternenDer Sieg des Willens über die Stimme
Vonvullyam 26. Mai 2012
Über 30 Jahre nach seiner ersten Einspielung ging der damals 60-jährige Dietrich Fischer-Dieskau noch einmal ins Studio, um Schuberts Winterreise aufzunehmen, ein Werk, dass ihn wie kein anderes über seine ganze Karriere hinweg begleitete und beschäftigte. Sein Begleiter war diesmal kein gelernter Begleiter, sondern mit Alfred Brendel ein Pianist, der als Solist und Schubert-Spezialist einen ähnlichen Rang innehatte wie der Sänger selbst. Das Ergebnis wurde von der Kritik zwiespältig aufgenommen:
Anlass zur Kritik bot zunächst der Zustand von Fischer-Dieskaus Stimme, ihre Zerbrechlichkeit und Brüchigkeit, durch die vor allem hoch liegende und laute Passagen kein wirklicher Genuss mehr sind ("Mut"). Zu dem zerissenen Charakter des Winterreisenden passt das aber durchaus. Lieder wie "Das Wirtshaus" oder gar "Der Leiermann" sind von einer ganz eigenen Authentizität.
Interpretatorisch hat Fi-Die nach eigenen Worten "das Legato wieder entdeckt," nimmt seine Wort-Interpretation gegenüber früheren Einspielungen stark zurück zugunsten der musikalischen Linie.
Das mag auch am Pianisten liegen:
Alfred Brendel begnügt sich (natürlich) nicht damit, den Sänger einfach zu begleiten, sondern setzt sehr eigene Akzente, übernimmt teilweise gar die Führung. Das ist mir persönlich etwas zu viel, zumal sein blühend voller Klavierton nicht ideal zur brüchigen Stimme Fischer-Dieskaus passt.
So spannend die Aufnahme ist - ich höre Fischer-Dieskau lieber in älteren Aufnahmen mit intakter Stimme. Meine Favoriten sind die beiden Aufnahmen mit Gerald Moore - 1955 mono (EMI) stimmlich frisch und männlich, 1971 stereo (DGG) mit sehr ausgefeilter Interpretation. In beiden Aufnahmen harmoniert der Pianist besser mit dem Sänger.
Ein Geheimtipp: Eine Radio-Aufnahme von 1952 aus Köln mit (und trotz) Hermann Reutter am Klavier.