Am höchsten bewertete positive Rezension
41 Personen fanden diese Informationen hilfreich
5,0 von 5 Sternen"Ewige Wahrheiten gibt es in der Welt als Natur; in der...
VonMichael Dienstbieram 20. Juli 2016
…Welt als Geschichte gibt es ein ewig wechselndes Wahrsein" (894). Es muss etwas dran sein an einem Buch, dessen Titel idiomatisch in den Sprachgebrauch eingegangen ist. Spengler, der Privatgelehrte, der Einzelgänger, 1936 völlig vereinsamt und von der Öffentlichkeit vergessen gestorben, veröffentlichte zwischen 1918 und 1922 sein monumentales Werk "Der Untergang des Abendlandes: Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte“ und traf damit den Zeitgeist einer durch die Kriegsniederlage in ihrem Selbstbewusstsein erschütterten Nation, die sich durch den Versailler Vertrag noch zusätzlich gedemütigt sah und somit ständig das Ende einer Epoche, eines Zeitalters vor Augen hatte. Doch Spengler dachte in viel größeren Maßstäben; es war sein Ziel, ein allgemeingültiges Strukturschema – im Untertitel des Buches "Morphologie" genannt – vom Entstehen, Erblühen und Untergang von Kulturen zu entwerfen. Neben dem Abendland – darunter versteht Spengler die Geschichte Westeuropas seit 900 n. Chr. und später auch noch die Nordamerikas – identifiziert der Autor Indien, China, Babylon, die aztekische, die ägyptische, die arabische und die antike (damit meint er den griechisch-römischen Kulturkreis seit 1100 v. Chr.) Kultur als organische Einheiten, die allesamt wesentliche Strukturmerkmale teilten: "Ich sehe statt jenes öden Bildes einer linienförmigen Weltgeschichte, das man nur aufrecht erhält, wenn man vor der überwiegenden Menge der Tatsachen das Auge schließt, das Schauspiel einer Vielzahl mächtiger Kulturen, die mit urweltlicher Kraft aus dem Schoße einer mütterlichen Landschaft, an die jede von ihnen im Verlauf ihres Daseins streng gebunden ist, aufblühen, von denen jede ihrem Stoff, dem Menschentum, ihre eigne Form aufprägt, von denen jede ihre eigne Idee, ihre eignen Leidenschaften, ihr eignes Leben, Wollen, Fühlen, ihren eignen Tod hat" (29).
Nietzsches Einfluss auf Spengler – die ewige Wiederkunft des Gleichen – ist in dieser Kulturmorphologie deutlich zu spüren. Doch worin besteht dieses Gleiche, was so unterschiedliche Kulturen wie die der Chinesen und der Azteken verbinden soll? Spenglers Sprache, seine organische Herangehensweise an Kulturen, an Geschichte, ist für uns Heutige stark gewöhnungsbedürftig und entfaltet doch, oder vielleicht auch gerade deswegen, eine argumentative Kraft, der man sich nur allzu gerne hingibt. Er vergleicht Kulturen mit dem Lebenszyklus einer Pflanze, welche mit einem Samenkorn beginnt, langsam wächst, schließlich erblüht, verwelkt und am Ende stirbt. Konkret identifiziert Spengler Phasen wie die Reformation oder die Renaissance in jeder der von ihm verorteten Kulturen. Zudem erkennt er in jedem Zeitalter die Tendenz zur Versachlichung, zur Entzauberung der Welt, was dann aber immer zu einer Respiritualisierung führen würde: "Aber die Geschichte lehrt, daß der Zweifel am Glauben zum Wissen führt und der Zweifel am Wissen nach einer Zeit des kritischen Optimismus wieder zurück zum Glauben" (887).
Und doch gebe es etwas, so Spengler, was den Abendländer von allen anderen Kulturen unterscheide: Dies sei der faustische Menschentyp, der immer zweifelnde, ewig strebende Geist, der niemals ruht. Demgegenüber stellt Spengler den apollinischen Menschen der Antike, der eher sinnlich orientiert sei, nur in der Gegenwart lebe und dem das faustische Streben fremd sei. Daraus ließen sich auch die wesentlichen Unterschiede in den morphologischen Entsprechungen der einzelnen Bereiche erklären. Die antiken Götter, körperlich und sinnlich orientiert, der abendländische Gott, allmächtig, allwissend und immer fordernd. Der antike „Staat“ war am überschaubaren Maßstab der Polis orientiert, der abendländische hingegen raumgreifend, expansiv.
Zu Beginn des zweiten Teils der Darstellung konzentriert sich Spengler auf die aktuelle Situation des Abendlandes, welches er zu Beginn des 20. Jahrhundert im Stadium des Verblühens sah. Einige seiner Beobachtungen sind von bemerkenswerter Aktualität und entsprechen damals wie heute dem Lebensgefühl eines wachsenden Teils der Bevölkerung. Über das Treiben der Presse schreibt er: "Was sie will, ist wahr. Ihre Befehlshaber erzeugen, verwandeln, vertauschen Wahrheiten. Drei Wochen Pressearbeit und alle Welt hat die Wahrheit erkannt [...]. Man will nur noch denken, was man wollen soll, und eben das empfindet man als seine Freiheit" (1139+1141). Besser als jeder heutiger Zeitgenosse hat Spengler damit das aktuelle Wesen des Erziehungs- und Gesinnungsjournalismus auf den Punkt gebracht. Presse, Technisierung und Rationalisierung sieht Spengler als Zeichen von Zivilisation, die Stufe, die jede Kultur kurz vor ihrem Untergang durchlebe.
Schon seine Zeitgenossen bezeichneten Spengler als Kulturpessimisten, eine Bezeichnung, die sich bis heute gehalten hat. Er selbst hat sich vehement gegen diese Einordnung verwahrt, und in der Tat liegt seiner Geschichtsphilosophie ein zutiefst optimistischer Impetus zugrunde. Ja, alles, was ist, geht zugrunde, doch es entsteht auch immer etwas Neues, womit das Leben und Sterben von Kulturen dem ewigen Leben und Sterben in der Welt der Natur entspreche. Etwas Altes geht unter, etwas Neues entsteht – das ist nichts Fröhliches, nichts Trauriges, es ist schlicht das Gesetz des Lebens und wir Menschen können nur entscheiden, ob wir diesen ewigen Wandel passiv über uns entgehen lassen oder versuchen, ihn aktiv zu beeinflussen. Nicht mehr, aber eben auch nicht weniger.
Fazit: Bis heute überwältigt "Der Untergang des Abendlandes" durch den universellen Anspruch, das Wesen von Leben, Tod, Kultur und Geschichte entschlüsseln zu wollen, seine unglaubliche Gelehrsamkeit und eine Sprachgewalt und ein Sprachniveau, welches man keinen heute Lebenden mehr zutraut zu erreichen. Das Denken und Schreiben Oswald Spenglers ist ein zentraler Teil deutscher Kultur- und Geistesgeschichte – völlig unabhängig von heute gültigen Kriterien wissenschaftlichen Arbeitens – und wird auch weiterhin die Jahrzehnte überdauern.